Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit

Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten. 1933-1943
Stuttgart 2020

„Sie erfahren sich einfach grundlegend anders in die Welt gestellt.“ (84)

I

Im Herbst 2020 erschien das neue Buch von Wolfram Eilenberger: „Feuer der Freiheit- Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten“. Zuvor hatte der Autor in „Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie “ (2018) vier Philosophen der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts vorgestellt. Nun sind es vier denkende Frauen, deren Leben und Werk erzählt wird, konzentriert auf die Jahre 1933-1943.

II

Die Kernidee des Autors ist eine alternative Philosophiegeschichte, die nicht in systematischer, sondern in erzählender Weise erfolgt. So bleibt er nahe an den historischen und politischen Ereignissen eines ausgewählten Zeitraums, aus dem heraus die Protagonistinnen ihre Gedanken entwickeln.

Auf verschiedene Weise in existentielle Krisen geworfen, sind ihre Themen ähnlich: die Frage nach dem Selbstsein, dem Sinn des Lebens, der Bedeutung der anderen und allgemeiner nach einem Verständnis von Freiheit zwischen Ich und Kollektiv. Das Denken wird allen vier Frauen zum Medium, sich in der Krise zu orientieren und zu behaupten. So schaffen sie einen eigenen Typus von Philosophie, der aus dem Leben selbst hervorgeht im Unterschied zur Universitätsphilosophie, der Wolfram Eilenberger akademische Weltweisheit und Lebensferne unterstellt. Ohne es explizit zu thematisieren, wie er die ‚Rettung der Philosophie‘ im Untertitel verstanden wissen möchte, wird klar, dass der Autor sie in dem unabhängigen Denken der vier Frauen sieht.

III

Die Erzähldimension ermöglicht es dem Autor, die Geschichte der vier Philosophinnen in Stationen und Etappen vorzustellen und die Entstehung ihrer Gedanken in Bezug zu persönlichen und historischen Ereignissen aufzuzeigen.

Simone de Beauvoir entwickelt sich in dieser Zeit von der Philosophie-Lehrerin in der Provinz zur selbständigen Schriftstellerin und Philosophin des Existentialismus. Sie ist es, die die Bedeutung des anderen für die eigene Existenz erkennt, ein Gedanke, der dann von Sartre aufgegriffen wird. Die Erfahrung, als Frau neben Sartre die ewig „Zweite“ zu sein – trotz aller gegenseitigen Gleichheitsversprechen –, wird sie erst später in ihrem Werk „Le deuxième Sexe“ (1949/1992) bearbeiten.

Hannah Arendt erlebt den ‚totalen Weltverlust‘. Aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen ist sie gezwungen, sich mit ihrem Jüdin-Sein auseinander zu setzen. Für sie bedeutet die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland das Ende einer angestrebten Universitätslaufbahn. Flucht, Flüchtlingsarbeit, Unterstützung der zionistischen Bewegung, Enttäuschung über deren politische Ausrichtung lassen in ihr ein ‚Denken ohne Geländer‘ entstehen. Sie verliert den Halt in der Welt, ihren Lebensort, ihr Denkmodell, ihre Glaubensauffassung. Alle diese Erfahrungen versucht sie in ihrem Buch über die „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ (1955)  zu analysieren und zu sortieren. Sie ist die einzige der vier Frauen, die später an einer Universität als Professorin lehren wird.

Simone Weil würden wir vielleicht heute eine Aktivistin nennen. Als Gewerkschafterin steht sie im politischen Leben, sie schreibt und denkt für die Praxis. Sie erkennt früh die Gefahren und Strukturen der totalitären Systeme in der Sowjetunion und in Deutschland. Ihre Einsichten stürzen sie in tiefe Verzweiflung in Bezug auf den verbleibenden Sinn politischen Handels und in gefährliche politische Aktionen (Flüchtlingshilfe, Bürgerkrieg in Spanien) – zugleich in tiefe Einsamkeit, weil ihre Weggefährten die Gefahr der Situation nicht sehen wollen. In diesen schweren Zeiten hat sie ein mystisches Erlebnis, das sie in der Folge in ihr Denken integriert: die totale Freiheit liegt in der Abkehr vom Ich.

Ayn Rand versteht Freiheit dagegen ganz anders: sie entsteht ihr zu Folge aus einem kompromisslosen Egoismus. Wie sie zu dieser Haltung kommen konnte, erhellt ihre Lebensgeschichte: 1905 in Petersburg als Alissa Rosenbaum geboren, erlebt sie die Novemberrevolution, die Enteignung und Degradierung ihrer Eltern als Apothekenbesitzer, die kollektivistische Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft und den Stalinismus. 1926 gelingt ihr die Ausreise in die USA, wo sie ihren Namen ändert und ihr ehrgeiziges Projekt einer willensstarken Selbsterfindung umsetzt. Ihr philosophisches Modell entfaltet sie in mehreren Romanen, als Hauptwerk gilt „The Fountainhead“ (1943/1993), deren Protagonist ihre Lehre lebt. Ca. 25 Millionen Mal wurde dieses Buch in aller Welt verkauft, es vermittelt interessante Einsichten auf heute noch aktuelle amerikanische Wertvorstellungen.

IV

Als Frage bleibt, warum der Autor bei aller Komplexität der Ereignisse und Gedanken dieser dramatischen Zeitspanne den feministischen Blickwinkel weglässt. Das ist erstaunlich, da er einerseits diese vier Frauen als Beispiel einer Erneuerung und Radikalisierung des Denkens ausgesucht hat – zugleich aber das Besondere ihres weiblichen Blicks auf das Geschehen und die Resultate ihres Denkens vernachlässigt. Ihre Erfahrungen des Frau-Seins werden nur  im Kontext ihrer jeweiligen Lebensentwürfe erzählt, aber sie bleiben am Rande. Hier wirkt die selbstauferlegte Zurückhaltung des Autors als Erzähler selektiv.

V

Das Neue: die Anerkennung reflektierender Frauen außerhalb der Universitätsphilosophie als eigenständige Denkerinnen und ihr individuelles Vermögen, die Kraft des Denkens in schweren Zeiten zu entfalten.

1/2021

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