Helene Cixous. Jaques Derrida. Die sexuelle Differenz lesen.

Übersetzt und mit einem Essay von Claudia Simma.

Herausgegeben von Anna Babka und Matthias Schmidt.

Wien.Berlin 2023

 

 

 

 

 

„ Die  <D.S.>  [sexuelle Differenz] ist weder eine Religion, noch etwas Greifbares, noch ein definierter Raum zwischen zweien, sie ist Bewegung selbst, denkende Beweglichkeit, biegsame Reflexion, reflexives Sich, negative Göttin ohne Negativität, das Unfassbare das mich berührt, das aus dem Nächsten kommend mir selbst blitzweise das unmöglich Andere-Ich gibt, sie lässt das Du-das-ich bin auftauchen, beim Kontakt mit dem anderen.“ (Hélène Cixous, 34)

 

I

Der oben genannte Band enthält zwei Vorträge von Hélène Cixous und Jaques Derrida, die sie nacheinander und aufeinander bezugnehmend 1990 anlässlich eines Kolloquiums des Collège International de Philosophie und des Centre d’Études Féminines de l’Université Paris VIII gehalten haben.

Claudia Simma hat die Beiträge übersetzt. In einem anschließenden Essay gibt sie Lesehilfen zum Verständnis der Wortspiele und Sinn-Verschiebungen des französischen Textes, die in einer Übersetzung ins Deutsche verloren gehen.

Und das ist auch das zentrale Thema: „Durch Übersetzen Ersetzen scheint unmöglich“ (Jaques Derrida, 50). Das gilt sinngemäß sowohl für die Übersetzung als auch für das Thema selbst.

II

Zur  Zeit findet eine Re-Lektüre der sexuellen Differenz und das heißt der Differenz-Theorien statt. * Nach mehr als dreißig Jahren gender-trouble ( Judith Butler 1990/91) und Konstruktion stehen die theoretischen Prämissen dieser Ansätze (neu) zur Disposition. Die erhofften Veränderungen bezüglich der Erfindung von Geschlechtsidentitäten und der Ent-hierarchisierung des Geschlechterverhältnisses sind nicht eingetreten. Die ursprüngliche Kritik der Begriffe Geschlecht und Identität ist umgeschlagen in eine erneute Ideologisierung und normierende Identitätspolitik.

Die HerausgeberInnen möchten mit der Veröffentlichung der Beiträge von Hélène Cixous und Jaques Derrida „ ….der vermeintlichen Eindeutigkeit einer binären Vorstellung von gender/genre eine Vielzahl historischer, logischer und struktureller Schattierungen hinzufügen“ (Anna Babka, Matthias Schmidt, 7). Sie verweisen auf die Notwendigkeit „einer immer wieder neu zu leistenden Re-Artikulation der sexuellen Differenzierung“ (ebd.).

III

Hélène Cixous und Jaques Derrida ‚kennen‘ sich. Das hat autobiografische Gründe in der erlebten Kindheit in Algerien, in der gemeinsamen Religion, in einer lang andauernden Freundschaft und in der Kenntnis der jeweiligen Texte des anderen.

Hélène Cixous nennt ihren Beitrag “Märchen der sexuellen Differenz“. Ihre Gedanken entstehen aus dem Inneren: „Wenn man sagen kann, dass ich eine Frau bin, was ich beim Schreiben, beim Lesen erfahre, dann ist es, dass es Inneres gibt“ (Hélène Cixous, 29). An ihrem Gegenüber/Du wird ihr bewusst, dass  Jaques Derrida einen anderen Referenzpunkt hat als sie. Für sie ist er der ‚Beschnittene‘, der sich ein Leben lang mit dem Thema der Zirkumzision beschäftigt. Der ‚Beschnittene ist „explizit anders, different“, er fühlt sich als ‚Differierender‘ “ (Hélène Cixous, 19). Mit der körperlichen Einschneidung, Einschreibung wird eine symbolische und kulturelle Zugehörigkeit erworben. Hélène Cixous dagegen fühlt sich als ‚Differierte‘, sie erlebt die Differenzierung von außen kommend. Es beunruhigt sie: „Ich weiß nicht, welches mein Ensemble ist! Wer sind Ich?“ (Hélène Cixous, 35)

Die Antwort findet sie in der Sprache: „Was wir nicht wissen….das weiß die Sprache“ (Hélène Cixous, 37). Aber es ist eine unendliche, „unermüdliche Arbeit des Entschleierns, des Aufspürens, Ortens, des Wühlens, des Grabens“ (Hélène Cixous, 42), die am anderen Ort sogenannte : écriture féminine (Das Lachen der Medusa. 2013).

Der Beitrag von Jaques Derrida heißt ‚ Fourmis: Ameisen‘. Dieser Text ist reine Improvisation, unvorbereitet greift er ein Wort, ein Stichwort auf, dass ihm Hélène Cixous bei einem kurz zuvor stattgefundenen Telefonat gegeben hat. Sie hat von einem Ameisen geträumt, einem männlichen Insekt. Schon eröffnet sich die ganze Problematik: Wie über die sexuelle Differenz reden, die der Ameisen? Was wissen wir überhaupt über Geschlechtsein, kann man es sehen oder nur vermuten? Oder nur ‚lesen‘? Jaques Derrida zerlegt etymologische Wort-Bedeutungen, eine Ameise ist ein wirbelloses Tier mit Einschnitten. Insekt bedeutet, geschnitten, zerschnitten, das alles sind Ausdrücke der Separation, Reparation – es sind Elemente der Differenz.

Durch De-Konstruktion beliebiger Begriffe wird deutlich: „Auch  wenn die sexuelle Differenz sich so den Lesarten öffnet, ist sie doch nie von vornherein und durch und durch, de part en part sichtbar“ (Jaques Derrida, 79). Sie bleibt unfassbar. Ein Differentes wie der Ameise oder die sexuelle Differenz können nicht – ohne Bedeutungsverlust oder Sinnverschiebung – von der einen zur anderen Seite transportiert werden: „Durch Übersetzen Ersetzen scheint unmöglich“ (Jaques Derrida, 50).

IV

Was kommt dabei heraus, wenn eine Frau und ein Mann die sexuelle Differenz lesen? Beide sehen die Unmöglichkeit einer definitiven Bestimmung der sexuellen Differenz. Doch die Lektüre der Frau führt zur écriture féminine und die des Mannes  zur De-Konstruktion. Hier endet der Austausch zwischen den beiden Vortragenden. Aber die Diskussion damals ging weiter.

Es war Luce Irigaray, die Jaques Derrida, den Kritiker des Phallogozentrismus darauf aufmerksam machte, dass er die symbolische Funktionsweise der Herrschaftsdiskurse nicht  berücksichtige (Luce Irigaray. Der Glaube selbst 1989). Durch Vereinnahmung des Weiblichen in eine bestimmte Vorstellung/Bestimmung von Frausein im symbolischen System, kann die Frau nicht von sich als selbst sprechen, weiß nicht, wer sie ist – so wie es Hélène Cixous in ihrem Beitrag beschreibt. Diese Ebene wird durch De-Konstruktion nicht erfasst, sie setzt das Unbestimmt-Sein der Frau fort, indem ihr die Möglichkeit, sich einen eigenen Ort in der Sprache und im Symbolischen zu schaffen, vorenthalten wird.

Es bleiben also Fragen und Probleme. Doch mit der Publikation der Beiträge von Hélène Cixous und Jaques Derrida zum gegenwärtigen Zeitpunkt eröffnen sich alte Denkhorizonte neu. Sie bieten Argumente gegen eine vereinfachende Sicht des Geschlechterverhältnisses und gegen eine Vereindeutigung von Geschlecht.

V

Die beiden Texte sind ein experimentelles Ereignis ohnegleichen. Aufmerksamen LeserInnen entgeht natürlich nicht der emotionale Subtext: nichts-sagend – alles sagend. Aber das war nicht das offizielle Thema.

 

 

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–  Andrea Günter, Philosophie und Geschlechterdifferenz. Auf dem Weg eines genealogischen Geschlechterdiskurses. Opladen. Berlin. Toronto 2022

– Tove Soiland. Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische Perspektiven auf die Gegenwart. Herausgegeben von Anna Hartmann, Münster 2022

–  Maria Isabel Pena Aguado. Maria Jose Binetti: Diferencia sexual.2023

 

 

6/2023

 

 

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