Golineh Atai.
Iran. Die Freiheit ist weiblich
Berlin 2021
„ Jede Protagonistin – ob Tochter eines Klerikers, Journalistin, Ingenieurin, Studentin, regierungsnahe Angestellte oder Mutter und Geschiedene – hat eine Entwicklung angestoßen, Nachdenken ausgelöst, ist zum Vorbild geworden, im Kleinen wie im Großen. Als Frauen stehen sie an der vordersten Front des Widerstands gegen Unrecht.“ (22)

I
„Den Stimmlosen eine Stimme verleihen“ (20), das ist das Anliegen von Golineh Atai und ihrem Buch ‚Iran. Die Freiheit ist weiblich‘ (2021). Es ist ein politisches Buch und sein Thema ist die Gewalt gegen Frauen in der Islamischen Republik Iran.
Geboren in Teheran, aufgewachsen in Deutschland arbeitet sie heute als Journalistin und Korrespondentin mit den Schwerpunkten Osteuropa und Mittlerer Osten. Das Buch wurde 2021 publiziert, es ist also vor den aktuellen Protestaktionen in Iran entstanden. Es ist hochaktuell. Anhand der individuellen Lebensgeschichten der neun interviewten Frauen, werden die Geschichte Irans und die Funktionsweise des politischen Systems dargestellt und es entsteht ein Einblick in weibliche Lebenswirklichkeiten.

II
Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Regimes nach der sogenannten islamischen Revolution 1979 war die Einführung der Zwangsverschleierung. Seitdem kämpfen Frauen im Iran gegen die Beschränkung ihrer Rechte und für die Wiedererlangung ihrer Freiheiten in immer neu entstehenden Protestbewegungen. Seit 40 Jahren gehen Frauen dafür auf die Straße, ins Gefängnis und manchmal auf die Flucht, ins Exil.
Ausgangspunkt der Recherchen von Golineh Atai ist das andauernde Wegschauen der westlichen Öffentlichkeit, sei es der Politik, der Internationalen Organisationen, aber auch der feministischen Frauen (das scheint sich gegenwärtig zu ändern). Die Gewaltausübung gegen Frauen, die Verletzung der Menschenrechte und die Verzweiflung der Betroffenen finden kein Echo in der Welt. Die Interviewten beklagen, dass ihre Aktionen und damit sie selbst ‚unsichtbar‘ bleiben und dass die fehlende Resonanz auf ihre Proteste zu einer Stärkung des politischen Regimes führt.
Golineh Atai hat Interviews mit neun Frauen geführt, die sich jede auf ihre Weise im öffentlichen Kampf für Frauenrechte und Freiheit eingesetzt haben. Die Gespräche fanden über Video-Anruf oder persönlich – im Exil – statt. Das Buch ist weniger eine Studie als eine Reportage. In den Berichten werden die Gedanken und Aussagen der Frauen wiedergegeben, sie werden als Persönlichkeiten erfahrbar.

III
Alle interviewten Frauen haben an öffentlichen Protesten gegen das Regime teilgenommen, wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sie haben Isolationshaft erlebt und unendliche Verhöre durch die Staatssicherheitsbeamten oder die Revolutionsgarden durchgestanden. Wenn sie sich weigerten, ein Schuldbekenntnis zu unterschreiben, wurde ihre Haft verlängert oder die Verlegung in ein Provinzgefängnis angeordnet.
Das Besondere aus unserer europäischen Sicht ist, dass die meisten Frauen als Einzelkämpferinnen begonnen haben, die aus je individuellen Motiven für die Freilassung des Bruders, gegen das Todesurteil des Sohnes, gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit, gegen das Verschleierungsgebot etc. gegen das Regime protestiert haben.
Dabei wird die immense Bedeutung der social media und des internets deutlich, mit denen Aktionen dokumentiert und vor allem öffentlich gemacht wurden. Die ans Ausland gesendeten infos hatten jedoch eine ambivalente Wirkung. Sie wurden vom Regime als Anklage- und Verhaftungsgrund benutzt.
Die Verarbeitung und Bewertung der erlebten Erfahrungen sind sehr unterschiedlich:
Shiva resümiert ihre erlebte Enttäuschung und die politische Machtlosigkeit illusionslos: „Ehrlich gesagt, ich glaube nicht mehr, dass Menschenrechte etwas zählen in der internationalen Politik. Es geht um politische Interessen und wirtschaftlichen Profit“ (96).
Atene, die die längsten Haftstrafen bekommen hat, ist innerlich daran gewachsen. Sie sagt, dass „ das Gefängnis ein Ort [sei], der sie Autonomie lehre. Der die Menschen nackt mache, sodass sich ihr wahres Wesen enthülle. Ein Ort, der die Kraft etwas auszuhalten, vermehre“ (172).
Roya bekennt sich zum Universalismus, in einer extremen Situation braucht es allgemein verbindliche Werte: „Universelle Menschenrechte sind der einzige Schutz, den Menschen vor Verfolgung und Machtmissbrauch im eigenen Land haben. Diese Rechte sind mitnichten vom Westen ‚auferlegt‘, nein, sie sind Werkzeuge, die unseren Schutz gewährleisten sollen; sie sind wirksam, solange die internationale Gemeinschaft von ihrer Universalität überzeugt ist und sich verpflichtet, ihre Achtung zu gewährleisten“ (298).

IV
Das Buch von Golineh Atai ist herausfordernd, ein Wegschauen danach ist nicht mehr möglich. Es wirft unzählige Fragen auf, theoretische und politische:
Warum ist in so vielen Gesellschaften Gewalt gegen Frauen immer noch und weiter eine Alltagserfahrung? Wann und warum entscheiden sich Frauen zur öffentlichen Kritik und zum Protest gegen das politische System? Woher nehmen sie die Kraft zum Widerstand?
Warum ist das Thema Gewalt gegen Frauen im feministischen Diskurs des Westens so wenig präsent? Muss die Bedeutung der Menschenrechte und ihre Funktion überdacht werden? Ist die Position des Universalismus zu abstrakt? Braucht es andere Institutionen, um Frauenrechte national und international einzufordern und zu schützen?
Die Situation im Iran ist besonders problematisch, weil alle Stellungnahmen und Interventionen aus dem ‚Westen‘ zur feindlichen Ideologie erklärt werden.

V
Diese Fragen sind aktuell auch aufgrund des Kriegsgeschehens in der Ukraine. Wo bleibt eine feministische Positionierung?

12/2022

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