Petra Gehring
„Biegsame Expertise. Geschichte der Bioethik in Deutschland“
Frankfurt 2025
„Bios heißt Leben und Ethik ist sozusagen Lehre von dem Richtigen und von dem Falschen oder so – dann wäre es das ganze Leben! Aber man meint ja eigentlich spezifische problematische Formen. Aber ich glaube, Bioethik ist so schön knapp. Und kurz. Und die meisten wissen dann, was man ungefähr meint, wenn man das sagt. Und dass es eben um diese spezifischen modernen, durch die Entwicklungen der Medizin ermöglichten Anwendungen geht“ (Interview , 1062)
I
Das Zitat stammt aus einem Interview von Zeitzeugen, die die Autorin mit anderen Kollegen über die Entwicklung der Bioethik in Deutschland befragt hat.
Es zeigt exemplarisch das Problem, es gibt eine vage Vorstellung von dem, was der Begriff bezeichnet, das Wort enthält die beiden Komponenten Leben und Moral, ist einprägsam und hat etwas mit den neuen medizinischen Technologien zu tun.
Aber der Autorin zufolge gibt es keine eindeutige Definition des Begriffs und kann es auch gar nicht geben, weil Bioethik ein prozeduraler Vorgang ist, multifunktional und prinzipiell offen, also eine „Form“. Diese These entfaltet die Autorin auf mehr als 1300 Seiten. Es handelt sich um ein außergewöhnliches und ungewöhnliches Buch, sowohl bezüglich des Themas, des Inhalts und der Methodik.
Petra Gehring ist Professorin für Technik-Philosophie an der TU Darmstadt.
II
Über Hunderte von Seiten fragt man sich, worauf die Autorin hinaus möchte. Sie untersucht die Entwicklung und Entstehung der Bioethik in Deutschland in dem Zeitraum von 1970 bis 2010. Was ist daran interessant? Petra Gehring nennt erstens den alltagspraktischen und in diesem Sinn politischen Charakter von Bioethik. Es handelt sich zweitens um ein neues Thema, um ein neues Problem, aus dem sich eine neue Disziplin entwickelt. Hierüber wurde bisher nicht geforscht und damit drittens der eigenständige Weg dieses Fachs in Abgrenzung zu dem amerikanischen Verständnis von“ bioethics“ nicht reflektiert.
Tatsächlich wurde der Begriff zunächst in den 60er Jahren in den USA verwendet. Neue medizinische Forschungen führten zu neuen therapeutischen Praktiken. Es begann mit der Erfindung der ‚Anti-Baby-Pille‘, der Möglichkeit von Herztransplantationen, der Diagnose des ‚Hirntods‘, der Herstellung transgener Mikroorganismen (Insulin). Später entstanden Implantationstechnologie und nach der Gen-Analyse Möglichkeiten der Genmanipulation. Alle diese Praktiken bedurften einer alltagspraktischen Legitimation, da sie die Grenze bisheriger Vorstellungen von Leben, menschlicher Würde und körperlicher Selbstbestimmung überschritten. So entstand ein Diskussionsbedarf über sittliche, moralische und letztlich ethische Fragen, über das, was Leben ausmacht und unantastbar ist.
Das Untersuchungsthema von Petra Gehring hat einen Sub-Text, nämlich in welchem Maß und in welchem Sinn das Verständnis von Leben durch öffentlich politische Diskussionen verändert und neu bestimmt wird. Das aber bleibt Hintergrund der Untersuchung, trägt m.E. dennoch sehr zur Relevanz derselben bei. Also die Autorin erstellt keine Analyse des Lebens-Begriffs, sondern eine Beschreibung, wie die Bioethik diesen Gegenstand auffasst und prägt.
Dieser Untersuchungsgegenstand erfordert ein besonderes methodisches Vorgehen, ist nicht systematisch und auch nicht historisch, sondern am ehestens als eine exemplarische Diskursanalyse in Anlehnung an Michel Foucault zu verstehen. Die Autorin nennt es ein „beobachtendes Buch“ (7). Sie benutzt zeitgeschichtliche Quellen, vor allem aber Aussagen aus 90 Interviews/Gesprächen mit an der Bioethik Entwicklung involvierten Experten. (Diese Auszüge sind ausführlich in Fußnoten wiedergegeben und tragen sehr zur Veranschaulichung der Bioethik Geschichte bei.) Es entsteht ein weites Panoptikum von Ereignissen, Kommentaren und Berichten, die von der Verfasserin mit gleichbleibender Distanz – im besten Sinne positivistisch, wertneutral – zusammengetragen werden.
III
Das Buch besteht aus drei Teilen: 1) Ein neuer Typ von Normativität im Gefüge der Disziplinen, 2) Ethik in Gesellschaft und Politik, 3) Ethik zwischen Diskurs und Technologie.
Es gibt viele interessante détails aus den Untersuchungsergebnissen, z. B. dass der Einfluss der Rechtswissenschaftler in den Entscheidungsfindungen sehr stark ist, da sie sich letztlich auf ein normatives Grundgerüst stützen können. Den Kirchen und Theologen dagegen mangelt es erstaunlicherweise an fundamentalen Grundsätzen und so öffnen sie sich weitgehend neuen medizinischen und naturwissenschaftlichen Praktiken. Die Philosophen dagegen charakterisiert eine grundsätzliche Skepsis gegen ‚angewandte Ethik‘, ‚angewandte Philosophie‘ überhaupt. Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Bioethik bleibt gering mit Ausnahme der Werke von Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1979), Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark (1999) und Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur (2001). Über diese Werke entstanden lebhafte Diskussionen.
In einem ersten Resumée nach circa 1000 Seiten stellt Petra Gehring fest: „Nach dem, was die zurückliegenden Kapitel erzählt haben, mag es kaum verwundern, dass griffige und konsensfähige Definitionen der Bioethik fehlen: Ihr Gegenstandsgebiet entsteht ungleichzeitig, es ist bis in die Begriffe hinein umstritten, und es umfasst – unter dem Eindruck einer Welle biotechnischer Neuerungen – vielerlei. Umwelt und Ökologie, Biomedizin einschließlich des Umgangs mit Sterbenden, Gentechnik, Fortpflanzungstechniken, Forschung an Embryonen. Was wiederum ‚angewandte‘ Ethik als einigermaßen neuartige, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch öffentliche, politische und zivilgesellschaftliche Aktivität ausmacht, ist eine Frage, die auch nicht zu einfachen Definitionen führt.“ (1052)
In dieser prinzipiellen Offenheit sieht Petra Gehring das charakteristische Element dieser Disziplin und eine große Chance, sich dauerhaft zu etablieren. Bioethik ist gerade nicht eine ‚Reaktion‘ auf die Erfindung neuer medizinischer Technologien, sondern eine neue „gesellschaftsweite bioethische Diskussionslage, die weit über eine bloße Kommentierung der Life Sciences hinausgeht“ (1061). Ein Zeitzeuge nennt diesen Prozess eine „Ethisierung von Gesellschaft“ (1061), weil durch die neu entstandenen Netzwerke von Institutionen, Diskursen und Medien die Diskussionen von BürgerInnen mitgestaltet werden.
Also die ‚Geschichte der Bioethik‘ endet nicht mit einer begrifflichen Bestimmung, was den Inhalt dieser Disziplin ausmacht, sondern eher mit einer soziologischen Bestandsaufnahme: Bioethik hat ein neues Modell gesellschaftlicher Konsensbildung hervorgebracht. In Anlehnung an Michel Foucault bezeichnet es Petra Gehring als „gouvernementale Erfindung und bestimmungsoffenes Experimentierfeld“ (1185). In den multikomplexen Netzwerken der Experten geht es nicht um die Suche nach Lösungen, sondern um die Öffnung von Räumen zur gesellschaftlichen Konsensfindung.
Aus kritischer Sicht handelt es sich um ein neues politisches Herrschaftsmodell zur „Legitimationsbeschaffung und Herstellung von Akzeptanz“(1193). Die Autorin hält aber dagegen: „ Ethik-Expertise ist biegsam, aber alles andere als passiv. Schon, dass es sie gibt, wirkt transformativ, ohne dass Politik wirklich steuert. Das was Bioethik (mit) möglich gemacht hat, sind vielmehr über politische Arenen hinausreichende Prozesse eines normativen Wandels, der seinen Sitz mitten in den biopolitisch geprägten Ökonomien unseres Alltagslebens hat“ (1194).
IV
Es ist kein feministisches Buch ‚ Die biegsame Expertise. Geschichte der Bioethik in Deutschland‘ von Petra Gehring und es zeigt auch keinen feministischen Blickwinkel. Das ist bedauerlich. Fast alle Themen der Bioethik beziehen sich doch auf den Körper der Frau, ihre Rechte, ihre Bedeutung als Mutter und ihr Leben. Wann fängt Leben an, mit der Zeugung oder mit der Geburt, sind Mutter und Embryo eins oder zwei, wer verfügt über ‚nicht gebrauchte‘ Embryos? In den 90er Jahren waren Frauengruppen, Bürger-Initiativen und Parteigremien aktiv in diesen Diskussionen präsent, darüber gibt es ein Kapitel (14) ‚Feministische Argumente‘. Es zeigt, welchen Einfluss die Stimmen der Frauen hatten. Das herauszuarbeiten, war aber nicht das Anliegen der Autorin.
Besonders faszinierend ist dagegen die schon anfangs erwähnte Doppelbödigkeit der Darstellung von Bioethik und Leben. Es wird sichtbar, wie sich in den letzten fünfzig Jahren die Vorstellungen von ‚Leben‘ verändert haben und in einem quasi gesellschaftspolitischen Prozess der Kompromissbildung und Konsensfindung legitimiert wurden.
Aber es bleibt aus meiner Sicht ein großes Manko dieser Arbeit, dass Petra Gehring den Begriff ‚Bio‘ unhinterfragt übernimmt. Sie nennt zwar den Ursprung des Wortes in der griechischen Antike als ‚bios‘, aber dieser Begriff hat eben auch eine Geschichte bis er heute zu dem ‚Bio‘ in den Naturwissenschaften wurde. Die damit verbundene Reduktion des Lebens-Begriffes wird von der Autorin nicht weiter reflektiert. Das Verständnis von ‚bios‘ als Leben, das heißt als ganzheitlicher Komplex von Seele, Körper und Geist ist damit systematisch ausgeschlossen. Die Philosophin hat sich letztlich gegen die Philosophie entschieden. Es hätte ein anderes Buch werden können.
V
Die Zukunft wird es zeigen, ob dieses Konzept der Bioethik den anstehenden Herausforderungen durch die Digitalisierung der Lebenswelten und deren Folgen für Körper, Seele und Geist standhalten wird.
7/2025